May und Nitsche in der VITA-MINE – Ausstellung – 24.10. – 6.12.20 Eröffnung 24.10. – 18.00 Uhr

How do these boys come to be like that?

Intro Jürgen May/Michael Nitsche

Gegenüberstehen wie Spiegelbilder, sich im Anderen wahrnehmen, empfinden und erkennen, frei, ohne das Wahrgenommene zu bewerten oder zu verurteilen. Und immer wieder Einlassen, tiefer Hinabsteigen in das Eigene im Anderen: Ich bin du und du bist ich.

Michael Nitsche

Der Geruch archaischer Wucht

Seit Jahren nutze ich Vorstellungen, Bilder, Überlieferungen und Konzepte aus Märchen, Mythen und Schöpfungsgeschichten indigener Völker für meine Arbeit. So besitzen meine Figuren einen starken erzählerischen Aspekt und eine positive Unzivilisiertheit.

Meine Mischwesen aus menschlichen und tierhaften Anteilen sprechen formal eine allgemein eher als verstörend und hässlich empfundene Sprache. Ihre Körperhaftigkeit wirkt verletzlich, morbid, ihre Extremitäten teilweise missgestaltet oder fehlend. Ihre Erscheinung verströmt den Geruch einer archaischen Wucht, einer natürlichen Wildheit.

Ich denke manchmal, wenn ich meine Arbeiten in einer Ausstellung versammelt sehe, an eine Art Freak Show. Eine Ansammlung von Sonderlingen, allesamt aus der Zeit gefallen; jeder mit einer besonderen Begabung oder einem besonderen Handicap, die es zu wertschätzen gilt. Genauso, wie jedes Leben gewürdigt werden sollte, als eine Facette in einer allumfassenden Schöpfung.

Ich sehe in meiner Arbeit nichts Negatives. Ganz im Gegenteil! Indem ich Geschichten über Vergänglichkeit, Fragilität und Tod, die Ergründung von Mystik, Magie und Transzendenz mit meinen Plastiken, Photographien und Zeichnungen ergründe, spanne ich den Bogen über alle Aspekte unseres Menschseins, unseres Lebendigseins. Bedingungen und Zustände, die wir immer gerne in unserer Hochglanzkultur ausklammern, spreche ich direkt an. Und ich vertraue auf die positive Kraft, die aus der Ehe des Paares Hässlichkeit und Schönheit hervorgeht!

Und dann habe ich mehr Vertrauen in Kulturen, die wir primitiv nennen, die sich aber so ausgerichtet und angepasst haben, dass sie Jahrtausende überdauern, als in eine Pop-Korn-Kultur, der es in, erdgeschichtlich gesehen, kürzester Zeit gelingt, sich an den Rand des Abgrunds zu manövrieren und die sich ganz bewusst mit dem Potential der Selbstausrottung schmückt und dabei auch noch zivilisiert nennt.

(Auszüge aus einem Interview, das der Kurator Yvan Sikiaridis, Grimmwelt Kassel, mit Michael Nitsche am 06.06.2020 per Videokonferenz führte)

Jürgen May

Waldschatten und erhellte Geister

„Im Wald gibt es viele unbeschrittene Pfade, die an fremde Orte führen. Vorausgesetzt man hat den Mut, sie zu beschreiten. Mit einem flüchtigen Blick erhasche ich ein Getier. Es kommt mir menschenähnlich vor und dennoch fremd; ist es wohl gesonnen oder doch furchteinflößend? Allein die Vorahnung einer Begegnung mit dem Unbekannten lässt mein Herz schneller schlagen.“

Jürgen May

So wie viele Erfahrungen nicht vorhersehbar sind, ist auch die Malerei von Jürgen May nicht fest. Selbst auf Holz manifestiert, sind die figurativen Formulierungen mittels Farbe in ihren Formen nicht verfangen. Denn sie brechen aus und befinden sich in einer narrativen Entwicklung. Stets auf dem Weg zum nächsten Fragment schreiten sie durch die Bilder. Meist offenbaren sie sich nur in flüchtigen Augenblicken. Manchmal treten uns schemenhafte Chimären oder verblasste Menschengestalten entgegen, die uns als Wegbegleiter weiter in das Dickicht der Farbräume führen. Auch wenn der Künstler sich Waldmotiven bedient, wählt er eine unnatürliche Farbigkeit, die im Kontrast zur Motivik steht. Die Malerei nimmt dabei eine eigene Realität an, ist aber genährt von der unseren und findet darin eine neue Materialität. Sie oszilliert, gleichzeitig steht dagegen ein fester Pinselstrich, um das Wahrgenommene nicht im Nebel der Abstraktion zu verlieren. Es ist eine sinnliche Geschichte, die sich vor uns ausbreitet. Die bemalte Oberfläche verändert sich im Prozess des Betrachtens, vor allem wenn wir die Begleiter als janusköpfige Boten entlarven. Diese Wahrnehmung ist für den Künstler etwas Ursprüngliches. Die Illusion vom fixierten Bild wird gegen ein schwebendes, wandelbares eingetauscht, so dass der Betrachter mit seinem eigenen Blick die eigenen Perspektive in das Geschehene hineinprojizieren kann. Ein Spiel zwischen dem Gesehenen und dem Erahnten lässt keine narratologische Analyse zu, sondern lässt den Betrachter in den dämmernden Farben zurück. Die Gemälde fließen in ihrer eigenen Gegenständlichkeit und finden dennoch in unserem Umraum statt. Im Kontrast zu den farbigen Bildern steht die Arbeit der Tafelmalerei, die der Künstler unter dem Titel „die Flüchtigen“ zusammenfasst. Hier zeichnet er mit Kreide auf Holzplatten, die er zuvor mit Tafellack aufbereitete. In diesen Bildern verliert sich das Gesehene in der Dunkelheit des Unbestimmten im Schatten des Waldes.

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